Die Insulaner
Kolumn Strandgut von Michael Stitz

Sylter Rundschau vom 24.6.2017

3. Insulaner-Stammtisch
Am Dienstag, dem 27.6.2017,
veranstaltet die Insulaner Fraktion einen Stammtisch mit den Schwerpunktthemen „Pflege auf Sylt“ und „Geburtssituation nach dem Regierungswechsel und dem neuen Koalitionsvertrag in Kiel“.

Eingeladen sind Ulrike Körbs, Koordinatorin der Sylter Hospizambulanz, sowie Anke Bertram, Vorsitzende des Hebammenverbandes SH.

Ort: Amadeus, Westerland, Sylt
Beginn: 20:15 Uhr.
Der Eintritt ist frei.

26.6.2017 - Kritik an der Pflegesituation auf Sylt nicht erwünscht? Nun erst recht!

Eine detaillierte Betrachtung, wie Pflegebedürftige durch die enormen Kosten auf der Insel keinen Platz mehr finden.

 

Vieles ist über die Sitzung des Sozial- und Gesundheitsausschusses am vergangenen Montag, den 19.06.17, in der Sylter Rundschau geschrieben worden. Am vergangenen Samstag veröffentlichte sie dann einen fast ganzseitiger Beitrag von Pierre Boom zum Pflegekonzept der Johanniter, die die beiden Pflegeheime der Gemeinde betreiben.

Heimbewohner dringend gesucht!“ Ein Zeitungsaufmacher mit großen Neuigkeiten: „Ab sofort stehen in zwei ambulanten Wohngemeinschaften 22 Plätze zur Verfügung“.

Schon klopfen sich die Beteiligten gegenseitig auf die Schultern, obwohl fünf Tage zuvor der Einrichtungsleiter des Johanniter-Haus Westerlands, Ortwin Merckens, den Ausschuss mit der Behauptung überraschte, dass die Kapazität an stationären Pflegeplätzen auf Sylt die Nachfrage übersteige. Dies beweise die aktuelle, nur 90%ige Belegung des Hauses am Wenningstedter Weg. Darüber hinaus beeinträchtige die dauerhafte Nichtbelegung der fünf von insgesamt 55 Heimappartments die Wirtschaftlichkeit des Hauses, so Ortwin Merckens weiter.

Wo sind sie die Alten?“ fragt spitzzüngig Michael Stitz, Chefredakteur der Sylter Rundschau in seiner Kolumne Strandgut. „War etwa all das Lamento der letzten Jahre, das immer gerne angestimmt wurde, wenn es um die Zustände in unseren Alten- und Pflegeheimen ging, nur eine Art Grundsatzkritik, aber nicht wirklich mit Fakten unterlegt?

Wenn Herr Stitz die Fakten nicht kennt, bedeutet das keineswegs, dass sie nicht existieren. In dem oben erwähnten Artikel wird interessanterweise mit keinem Wort die vernichtende Kritik an den derzeitigen (!) hygienischen Zuständen, die der Heimbeirat in der Sitzung des Sozial- und Gesundheitsausschuss vergangenen Montag öffentlich äußerte, erwähnt.

Kritische Fragen von Gemeindevertreter Hicham Lemssiah (Die Insulaner Fraktion), selber examinierter Altenpfleger mit langjähriger Berufserfahrung, werden wie die aller Kritiker als „Lamento“ abgetan, und er in der Berichterstattung despektierlich nicht einmal mit Namen genannt.

Selbst der AOK Pflege-Navigator bescheinigt dem Haus im Wenningstedter Weg im Qualitätsbereich 1 (Pflege und medizinische Versorgung) nur eine Note von 3,2 (Zeitraum Jan-Feb 2017), die wahrlich nicht zu Jubelstürmen animiert. Andere Bereiche schneiden zum Glück deutlich besser ab, wodurch sich die Gesamtnote auf 2,3 erhöht. Im Vergleich: Das DRK Pflegeheim hat eine Gesamtnote von 1,2, der besonders wichtige Qualitätsbereich 1 eine 1,5.

Die Schwierigkeit, Personal zu finden, bleibt für die Johanniter ein scheinbar unlösbares Dauerthema. Andere oder ehemalige Mitarbeiter sowie Angehörige von Patienten haben wiederholt auf Probleme und Arbeitsüberlastung hingewiesen. Ein einzelner Mitarbeiter, der während der Nachtschicht 50 Patienten betreut? Für die Sylter Rundschau offensichtlich ein hinnehmbarer Zustand.

Vergangenen Sommer wurden als direkte Folge einer bundesweiten staatsanwaltschaftlichen Untersuchung gegen die Johanniter wegen des Verdachts auf illegale Scheinbeschäftigung 10 Pflegepatienten der Steinmannstraße ihre Pflegeplätze mit einer einmonatigen Frist gekündigt. Die meisten der Betroffenen wurden in Heime auf dem Festland mit dem Versprechen, dass sie zurückkehren würden, umgesiedelt – ob sie es wollten oder nicht. Tatsächlich ist keiner auf die Insel zurückgekehrt. Kein regulärer Mieter einer Mietwohnung könnte in so einer kurzen Zeit gegen seinen Willen vor die Tür gesetzt werden – hier wurde es mit Pflegefällen knallhart durchgezogen.

Dies alles ging so weit, dass die Gemeindevertretung selbst vor exakt einem Jahr (Sylter Rundschau vom 22.6.2016) den Johanniter ein Ultimatum bis Jahresende 2016 setzte, die Missstände zu beseitigen und u.a. jene Wohngruppen aufzubauen, die jetzt in einigen Monaten starten sollen – „so sich denn genügend Bewohner finden lassen“, schränkte der Einrichtungsleiter ein. Bürgervorsteher Peter Schnittgart reagierte empört und bestand darauf, dass die Gruppen auf jeden Fall nun endlich - immerhin fast 7Monate nach Ablauf des "Ultimatus" - eröffnet werden müssen.

Also alles nur „Lamento“? Oder vielleicht doch ein Grund, nicht blind weiteren Versprechen zu vertrauen und dann eben doch einmal harte Fragen zu stellen?


Aber zurück zur Kernfrage: Gibt es tatsächlich keine Pflegebedürftigen mehr auf Sylt? Wenn ja, wo sind sie?

Die 70-seitige Studie aus dem Jahr 2015 „Expertise zur Entwicklung eines Handlungskonzeptes, -Gut Leben mit Demenz-“, von Fabian Frei, Prof. Dr. Andreas Langer und Dr. Prof. Mary Schmoecker, rechnet den deutlich steigenden Bedarf an Pflege- und Betreuungsangeboten auf Sylt. Demnach sind im Moment rund 380 Menschen von den verschiedenen Formen der Demenz betroffen – im Jahr 2030 werden es Prognosen zufolge über 460 Personen sein.“ Wohlgemerkt: Andere Patienten, die z.B. durch Herz-/Kreislauferkrankungen, Schlaganfälle oder aus anderen Gründen zu Pflegefällen werden, sind noch nicht einmal eingerechnet.

Es ist also ausgesprochen unwahrscheinlich, dass kein Bedarf besteht. Wahrscheinlicher ist, dass die meisten entweder die Insel verlassen müssen oder schon verlassen haben, improvisiert zuhause von den Familien selbst, von den vier ambulanten Diensten der Insel oder Pflegepersonal aus Polen und anderen Regionen versorgt werden.

Tatsächlich können sich viele diese Kosten hier auch gar nicht leisten: Hicham Lemssiah stellte in der Sitzung fest, dass der Eigenanteil des Heimbewohners mit Pflegegrad 2 bis 5 pro Monat bei den Johannitern in Westerland bei 2.069,38 Euro liegt. Der gleiche Heimbewohner muss ein Eigenanteil im Alten- und Pflegeheim Heinrichshof in Dagebüll von 1.237,57 Euro leisten. Eine Differenz von 831,81Euro pro Monat! (Zahlen: AOK Pflege Navigator)

Alleine durch solche Kostenunterschiede – immerhin sage und schreibe 10.000 Euro/Jahr! - „preist“ man Pflegebedürftige weg und lässt ihnen bzw. den Familien gar keine andere Wahl, als die Eltern, Großeltern oder pflegebedürftigen Partner in den letzten Lebensjahren aus deren Heimat in eine unbekannte Umgebung umzupflanzen.

Sylt ist eine "alternde kleinere Kommune"

Die oben genannte Studie weist auf einen weiteren, sehr relevanten Aspekt hin:

„…Es gibt zunehmend weniger familiäre Unterstützungsstrukturen. Die hohen Lebenshaltungskosten, das eingeschränkte Wohnungsangebot und die geringe Anzahl an hochqualifizierten Stellenangeboten sind die Ursachen für den Wegzug junger Familienmitglieder. Darüber hinaus spielt Sylt eine wichtige Rolle als Alterssitz für Zuzügler, die vor Ort kein familiäres Netzwerk haben.“...

Sylt wird mit „Demografietyp 8“ als alternde kleinere Kommune mit Anpassungsdruck eingestuft. Der beschriebene Anpassungsdruck ergibt sich u.a. aus den Erkenntnissen über die hohe Anzahl an Senioren im Verhältnis zu der geringen Anzahl an Kindern und Jugendlichen. Eine sehr hohe Quote der Einpersonenhaushalte ist ein weiterer Indikator für die sozio-demografischen Struktur auf Sylt. Im Vergleich dazu gibt Niebüll ein völlig anderes Bild ab. Die Gemeinde wird mit „Demografietyp 4“ als stabile Kommune eingestuft. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine stabile Einwohnerentwicklung und vergleichsweise junge Bevölkerung mit überdurchschnittliche Kaufkraft und geringe Einkommensarmut aus.

Diese Prognose lässt nichts Gutes ahnen, und genau deshalb ist dieses Thema für die Insulaner Fraktion von höchster Priorität. Man erkennt deutlich, wie die Themen Wohnraum, Familien, berufliche Möglichkeiten, demografischer Wandel und Gesundheit/Pflege auf Sylt zusammenhängen und nicht voneinander getrennt werden können. Es geht also um nichts weniger als die Zukunft einer funktionierenden Inselgemeinschaft.

Dennoch geht Herr Stitz in seinem beißenden Kommentar noch weiter:

Und was bedeutet das eigentlich für all unsere anderen in Planung befindlichen Bauten auf der Insel? Heute suchen wir die Alten für die Steinmannstraße und morgen die Jungen für die schicken neuen Bauten in unseren Gemeinden? Langsam müssen wir uns dann wohl überlegen, ob das gern gesungene Lied von der Wohnungs- und Betreuungsnot auf der Insel nur gut eingestimmt, aber längst nicht mehr stimmig ist. Aber wenn man so’n Lied erstmal kann, will man es auch singen…

Da unterstellt er süffisant, dass all die Kritik und Appellieren letztendlich nur reinem Selbstzweck dienen und blendet selbst die öffentlich besprochenen Problempunkte komplett und vorsätzlich aus. Schlimmer noch, ausgerechnet jenen, die professionell in dem Bereich arbeiten, die sich in der Politik oder in Vereinen ehrenamtlich engagieren, und sich für eine würdige und adäquate Versorgung der Schwächsten einsetzen, wirft er billige Selbstprofilierung vor. Das ist hochgradig ehrverletzend.

 

Tausende Sylter haben in den vergangenen Jahren die Insel verlassen. Vermutlich leben heute in einigen Bereichen auf dem umliegenden Festland mehr Ex-Insulaner als in einigen Dörfern und Ortsteilen auf Sylt, was mit Sicherheit mehr zur Entschärfung des Wohnraumproblems beigetragen hat als der kommunale Wohnungsbau der vergangenen drei Jahre.

Nach der Schließung diverser Schulen, eines Kindergartens und der Geburtsstation wird Sylt für Familien zunehmend unattraktiver. Mit der unglaublichen Verteuerung der Pflegeangebote nimmt man nun auch vielen älteren Mitbürgern die Möglichkeit, ihren Lebensabend in ihrer Heimat zu verbringen, ohne in Armut und Abhängigkeit zu verfallen, bzw. dem kleinen Rest ihres familiären Gefüges noch nah zu sein. Menschen dürfen am Ende ihres Lebens nicht nur als Kostenfaktor betrachtet werden, sondern verdienen Würde und Respekt. Sie haben diese Insel zu jener Topdestination aufgebaut, von der andere nun erstklassig profitieren.

Wenn immer Manager von „unzureichende Wirtschaftlichkeit“, „exorbitanten Personalkosten“ und angeblichen „Gehältern deutlich über Tarif“ reden, weiß man, dass genau damit überhöhte Preise und/oder weitere Preissteigerungen gerechtfertigt werden sollen.

Dies können und dürfen wir nicht hinnehmen, wenn wir wollen, dass die Insel auch in 20 Jahren noch ein lebenswerter und bezahlbarer Lebensraum auch für Normal- oder Geringverdiener bleibt und diese eben nicht auch noch von der Insel verdrängt werden.

Wir vertrauten den Johanniter den Betrieb der Heime an, boten Hilfe bei Personalfindung und –unterkünften, bei Sanierung und Betrieb und werden dies auch weiterhin tun. Es darf aber nicht sein, dass dieses Unternehmen unser Vertrauen dazu missbraucht, alles auf eine knallharte Profitmaximierung auf Kosten unserer Altenpflege zu reduzieren.

Die Kritik ist also nicht nur berechtigt, sondern auch absolut notwendig.

 

 

Mehr zum Thema: Deutsches Institut für Sozialwirtschaft e.V. Gutes Leben mit Demenz auf Sylt – wissenschaftliche Expertise zur Entwicklung eines Handlungskonzeptes